Vergebene Chancen, ausgebaute Vormacht
Freitag 28 Juni 2024 - Filed under Kommentare
It´s been some time..
Es ist zwar schon etwas her, aber ich möchte mal kurz meinen Blick auf den aktuellen Stand des Wrestlings werfen.
AEW
Ich war sehr schwer angetan, als AEW 2019 an den (regelmäßigen) Start ging. Ein gut produzierter Wettbewerb zu WWE Inc. mit einer gesunden Mischung aus etablierten Wrestlern und aufstrebenden Talenten machte sich auf, mein Wrestlingherz im Sturm zu erobern. Auch wenn die Pandemie mit ihren fast leeren Arenen ein wenig die Stimmung trübte, bot AEW weiterhin einiges. Ich glaube, Stings Rückkehr ist weiterhin einer meiner liebsten Wrestlingsmomente.
Doch im Laufe der Zeit hat AEW sein Momentum verloren. Es wurden immer mehr große und kleinere Namen in Popcorn-Momenten präsentiert, nur um dann festzustellen, dass man nach diesem Debüt keinen Plan mehr hatte. Keith Lee, Jay Lethal, Andrade El Idolo, Miro, Saraya und viele andere Namen füllten den Kader auf, ohne dass ihr Potential außerhalb vereinzelter Matches genutzt wurde. Dazu kommen große Fehleinkäufe wie CM Punk oder Mercedes Moné. Ersterer war auf Grund seiner Verletzungsanfälligkeit und seine Backstageverhaltens ein Problem, aber wahrscheinlich ein akzeptables Risiko, wenn man bedenkt, wie gut sich sein Merchandise verkauft. Letztere war ein absehbarer Flop.
Dazu kommt inzwischen ein massives Überangebot an Shows. Gab es anfangs Dynamite, wo die Handlungen fortgeführt wurden sowie die YouTube-Shows, die eher Squash-Matches zeigten, sind inzwischen Rampage und Collision dazugekommen. Leider bedeutet an der Stelle Masse nicht gleich Klasse und so zieht sich das TV-Programm ein wenig wie Kaugummi. Inzwischen hat Chris Jericho das 57. Gimmick und nimmt weiterhin einen erschreckend hohen Zeitanteil in Anspruch.
Natürlich hat AEW auch einiges gut gemacht. Sting wurde in seinen drei Jahren sehr geschickt genutzt, der Abschied wurde beinahe perfekt inszeniert. Mit MJF hat man einen eigenen Star entwickelt, dessen Grenzen noch lange nicht erreicht sind. Die Kooperationen mit anderen Ligen hatte und hat durchaus Charme, auch wenn ich mich frage, ob durch die große Reichweite von AEW nicht eher die Partner profitieren, aber egal.
Und dennoch bleibt nicht nur bei mir so ein gewisses WCW-Gefühl. Die vielen Midcarder, für die man keine Ideen hat. Die alternden Stars (neben Jericho z.B. noch Christian und Edge), die den Talenten Spots wegnehmen. Die zuvielen Stunden TV, die man füllen muss. Die Unmengen an Titeln, die ähnlich wie am Ende der WCW zur Bedeutungslosigkeit der Gürtel beitragen. Der Verlust von Main Eventern und vielversprechenden Talenten (CM Punk mit Abstrichen, Cody Rhodes und Jade Gargill wiegen schon schwerer).
Ich will nicht den Abgesang auf AEW einläuten, denn auch wenn das Booking zuletzt belangslos und uninspiriert wirkte, sind die Shows immer noch anschaubar. Wir sind noch weit weg von der Vince-Russo-Ära der WCW. Aber Tony Khan hat seine Chance, zum Marktführer aufzuschließen, erst einmal verspielt.
WWE
Einiges ist passiert, seitdem ich hier was geschrieben habe. Die wichtigste Änderung: Vince McMahon ist raus. Ich will gar nicht groß über die Vorwürfe schreiben, wie so häufig in solchen Fällen ist es eine unschöne und undurchschaubare Mischung aus gegenläufigen Aussagen und finanziellen Interessen, die zum Fall des Titanen geführt haben.
Schon zu Vinces Zeiten hat WWE sich trotz des Wettbewerbs durchaus langfristig im Main Event aufgestellt. Die Bloodline-Storyline wurde lange und konsequent durchgezogen. Ganz persönlich glaube ich, dass die jetzt zu sehende Fortsetzung mit neu hinzugefügten Charakteren eher eine Verwässung wie damals bei der nWo ist. Aber bekanntlich muss man ja die Kuh melken, so lange sie noch Milch gibt.
NXT entwickelt sich unter Shawn Michaels‘ Führung zu einer richtig tollen Talentschmiede, von der WWE auf Jahre profitieren wird. Zudem gelang dem Marktführer der ein oder andere Coup.
Cody Rhodes von AEW zu holen, war in jeder Hinsicht eine perfekte Investition. Der Mann ist ein Arbeitstier, ein glaubhafter Champion und Repäsentant und daher unheimlich beliebt. Dass AEW diese Gelddruckmaschine gehen ließ, dürfte manchen Freund der Zahlen dort ärgern. Auch der Wechsel von Jade Gargill war ein großartiger Bayern-München-Move. Die Konkurrenz hat diese charismatische und vielversprechende Wrestlerin auf die Bildfläche gebracht, sie als totales Monster im Ring dargestellt (trotz der offensichtlichen Unerfahrenheit) und ihr sogar über längere Zeit einen Titel gegeben. Nun staubt der Marktführer ab und kauft der Konkurrenz die Zukunft weg. Dieses Vorgehen muss man nicht mögen, aber es ist klug.
Spannend finde ich auch, dass WWE mit TNA zuletzt zusammenarbeitet, ja, diese Zusammenarbeit quasi auch von AEW übernommen hat. Jordynne Grace als TNA-Championesse beim Royal Rumble und bei NXT war ebenso überraschend wie cool, fast nur getoppt von Joe Hendry bei NXT. Dieses Theme ist einfach unglaublich.
Man sieht also: die letzten Jahre der Stille hier haben einen kleinen Wandel gebracht. WWE ist auf dem aufsteigenden Ast, festigt auf allen Ebenen seine Vormachtsstellung, während AEW über selbstgemachte Probleme stolpert, die man zumindest teilweise mit dem Wissen der Vergangenheit vermieden haben könnte.
Auf jeden Fall bleibt es spannend.
2024-06-28 » marcus